Kolosser 1,15 ff.

Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene aller Schöpfung. Denn in ihm ist alles in den Himmeln und auf der Erde geschaffen worden, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Gewalten oder Mächte: Alles ist durch ihn und zu ihm hin geschaffen; und er ist vor allem, und alles besteht durch ihn. (Kolosser 1,15-17)
Diese Verse verwenden Trinitarier gerne, um zu beweisen, dass Jesus Christus der Schöpfer des Himmels und der Erde ist, weswegen er Gott (JHWH) sein muss. Vor allem Vers 16 („… in ihm ist alles in den Himmeln und auf der Erde geschaffen worden …“) wird als Beleg dafür verwendet. Darüber hinaus steht ja unmittelbar davor der Begriff „Schöpfung“.
Doch davon sollte man sich nicht täuschen lassen. Nicht immer, wenn von „Schöpfung“ die Rede ist, ist auch die materielle Schöpfung (des Himmels und der Erde) gemeint.
In 2. Korinther 5,17 lesen wir zum Beispiel von einer „neuen Schöpfung“, die durch Christus kommt:
Daher, wenn jemand in Christus ist, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.
Paulus erwähnt dies auch gegenüber den Galatern (6,15):
Denn weder Beschneidung noch Unbeschnittensein gilt etwas, sondern eine neue Schöpfung.
Damit ist sicher nicht die Schöpfung von Himmel und Erde gemeint, sondern ein erneuerter Mensch durch das Werk Christi.
In Bezug auf die materielle Schöpfung hat Jesus immer von EINEM Schöpfer gesprochen, und zwar in der dritten Person („ER“), um genau zu sein.
Er aber antwortete und sprach: Habt ihr nicht gelesen, dass der, welcher sie schuf, sie von Anfang an als Mann und Frau schuf. (Matthäus 19,4)
… von Anfang der Schöpfung an aber hat er sie als Mann und Frau geschaffen. (Markus 10,6)
Denn jene Tage werden eine Bedrängnis sein, wie sie von Anfang der Schöpfung, die Gott geschaffen hat, bis jetzt nicht gewesen ist und nicht sein wird. (Markus 13,19)
Äußerungen Jesu, wodurch er zu verstehen gibt, dass er sich selbst als den Schöpfer (des Himmels und der Erde) sieht, gibt es nicht.
So bleibt zu klären, um welche Schöpfung es sich in Kolosser 1 handelt. Zuerst einmal ist festzustellen, dass Jesus in diesen Versen als Teil der hier genannten Schöpfung beschrieben wird.
Insbesondere die Formulierung „der Erstgeborene aller Schöpfung“ macht Jesus ganz klar zum Teil der erwähnten Schöpfung. Der Erstgeborene einer Familie ist Teil der erwähnten Familie. Der Erstgeborene aller Söhne ist Teil der genannten Söhne. Somit ist der Erstgeborene aller Schöpfung Teil der erwähnten Schöpfung. Alles andere wäre eine Vergewaltigung von Sprache und Logik.
Um zu erfahren, welche Schöpfung nun gemeint ist, müssen wir nur den Kontext betrachten. Sowohl vor dem oben zitierten Abschnitt als auch danach wird ein Bezug zum Erlösungswerk Jesu hergestellt. In dieser Passage wird die Schöpfung des Menschen, der Tiere, der Pflanzen, des Himmels und der Erde nicht explizit erwähnt. Das würde auch nur bedingt zum Kontext passen. Es geht nämlich um etwas anderes.
Gott, der himmlische Vater, „hat uns gerettet aus der Macht der Finsternis und versetzt in das Reich des Sohnes seiner Liebe. In ihm haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden.“ (Vers 13+14)
 „In ihm (dem Sohn) haben wir die Erlösung…“
„… denn es gefiel der ganzen Fülle, in ihm zu wohnen und durch ihn alles mit sich zu versöhnen – indem er Frieden gemacht hat durch das Blut seines Kreuzes – durch ihn, sei es, was auf der Erde oder was in den Himmeln ist.“ (Vers 20+32)
Alles, was auf der Erde oder was in den Himmeln ist, hat Gott mit sich versöhnt – durch das Werk Jesu. Und dieses Werk wird als Schöpfungsakt beschrieben, hin zu einer „neuen Schöpfung“. Genau darum geht es auch in den Versen 15 bis 17.
Jesus ist nicht Gott. Er ist dessen Bild. Durch Jesus kommt Gott zum Ausdruck. Das Bild einer Person ist niemals die Person selbst.
Jesus ist nicht der Schöpfer der materiellen Welt. Nein. Aber durch Jesus hat Gott eine neue Schöpfung bewirkt. Das hat auch Auswirkungen auf den Herrschaftsbereich (seien es „Throne oder Herrschaften oder Gewalten oder Mächte“, die sowohl sichtbar (Könige, Herrscher usw.) als auch unsichtbar (Engel, Dämonen usw.) sein können).
„Alles ist durch ihn und zu ihm hin geschaffen; und er ist vor allem, und alles besteht durch ihn.“ (Vers 16+17) Deswegen ist er  „das Haupt des Leibes, der Gemeinde. Er ist der Anfang, der Erstgeborene aus den Toten, damit er in allem den Vorrang habe.“ (Vers 18)
Somit wird auch klar, wovon er der Erstgeborene ist: von der Auferstehung.
In 1. Korinther 15 wird dies in ähnlicher Weise zum Ausdruck gebracht:
„Nun aber ist Christus aus den Toten auferweckt, der Erstling der Entschlafenen; denn da ja durch einen Menschen der Tod kam, so auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten.“ (Vers 20+21)
In Offenbarung 1 wird Jesus ähnlich beschrieben, wie in Kolosser 1. Dort ist Jesus Christus …
… der Erstgeborene der Toten und der Fürst der Könige der Erde! Dem, der uns liebt und uns von unseren Sünden erlöst hat durch sein Blut und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern seinem Gott und Vater: Ihm sei die Herrlichkeit und die Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen. (Vers 5+6)
Auch hier finden wir den Bezug zur Auferstehung, zur Erlösung und zum Herrschaftsbereich.
Dass er der „Erstgeborene“ bzw. der „Anfang“ (Offenbarung 3,14) dieser neuen Schöpfung ist, wird auch in Römer 8 verdeutlicht:
Denn die er vorher erkannt hat, die hat er auch vorherbestimmt, dem Bilde seines Sohnes gleichförmig zu sein, damit er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. (Vers 29)
Somit geht es im Kontext von Kolosser 1,15-17 um das Erlösungswerk Jesu als „neue Schöpfung“, die im Neuen Testament regelmäßig mit dem Tod am Kreuz, der Grablegung und der Auferstehung Christi symbolisiert wird.

Anmerkung 1:
„geschaffen“: Im Griechischen steht das Verb „κτίζω ktízō“, das außerdem „„gründen, bauen, wohnen“ bedeuten kann.
Anmerkung 2:
Ein allgemeiner Kommentar zum Begriff „Erstgeborener“ von der Seite bibelkommentare.de sei an dieser Stelle erwähnt:
Im A.T. verlieh der Titel seinem Träger den Vorrang gegenüber anderen, unabhängig vom Zeitpunkt der Geburt. Obwohl David der jüngste war, wurde er zum Erstgeborenen (vgl. Ps 89,28). Christus muss auch in jeder Beziehung den ersten Platz einnehmen, wie die oben angeführten Stellen zeigen.

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